Sonntag, 2. September 2007
Aus der Rubrik:...
Wie angehende Journalisten selbst zur Geschichte werden.

Der Anlass war, wie immer, ein WG-Casting.
Sonntag Mittag 11.35 Uhr, der Wecker spielt "Dreadlock Holidays" von den 10cc aus dem Snatch-Soundtrack. Rausquälen aus dem Bett nach fünf Stunden Schlaf. 12 Uhr Termin mit Sara. Den Mitbewohner noch schnell geweckt und bei Kaffee in der Küche gesessen.
11.57 "Tut mir leid, es wird 'ne halbe Stunde später". War ja klar. Hatten wir aber auch schon so halb eingeplant, wenigstens noch Zeit für ein Bio-Nutella-Brötchen (von Alnatura). 12.45, es klingelte. Herein kam eine geschätzte Anfang-Zwanzigerin, 1,80 groß, schlank, nicht Tussi, aber aufgestylt, mit Brille und Handtasche.
Im Grunde war schon mit dem ersten Blick klar, dass sie hier nicht einziehen wird. Egal, ein nettes Gespräch ist ja trotzdem möglich. Zuerst wird artig das Zimmer und die WG gezeigt, S.:"Oh, schön bunt", "mit Musik auf dem Klo".
H.:"Kaffee?" S.:"Ja, klar."
H:"Wie alt bist du denn?" S:"19"
H:"Oh, dann siehst du ja viel älter aus." S:"Ja danke, jetzt bezeichnet es man noch als Kompliment."
Schöne Zähne hatte sie und lächeln konnte sie auch ganz toll.
H:"Was machst du so?" S:"Ich fange an Arabistik zu studieren." H:"Oh, wieso das?" S:"Ich will Journalistin werden und bei meinem Praktikum haben mir die älteren Journalisten dazu geraten."
H:"Also ein reines Sprachstudium?" S:"Nein, es geht auch um die Kultur." Sie hatte gerade ihr Abitur in Karlsruhe gemacht und will nun eine Erst-Ausbildung machen. Ich muss mich ja erst dran gewöhnen das man jetzt Arabistik auf Bachelor studiert. So völlig ohne weitere Fächer. Ziel: Arabistik-Bachelor. Und was kann man damit tun? Na alles. Aha. So wie ich mit drei Fächern alles machen kann und trotzdem nichts mache.
S:"Ich habe zuletzt ein Praktikum bei der Bild-Zeitung gemacht und hatte mich für die Axel-Springer-Akademie beworben." "Da gibt es die beste journalistische Ausbildung." "Von den 10.000 Bewerbern habe ich es in die erste Runde unter die besten 750 geschafft." "Zum nächste Woche statt findenden Assessment-Center der besten Hundert wurde ich leider nicht eingeladen."
H:"Schade eigentlich." "Aus was bestand denn die Bewerbung für die A.-S.-Akademie?" S:"Auf 12 Seiten musste man sein Leben ausbreiten." "Unter anderem über die Spezialisierungswünsche und sowas." "Boulevard liegt mir ja nicht so. Berichte über 5,20m große Sonnenblumen kann ich überhaupt nicht."
H:"Und in was willst du dich mal spezialisieren?"
S:"Ich will Kriegsberichterstatterin werden."
H:"Hä? K-r-i-e-g-s-b-e-r-i-c-h-t-e-r-s-t-a-t-t-e-r-i-n?"
Ich weiß nicht ob mir wirklich der Mund offen gestanden hat, aber innerlich war ich überwältigt. Vor einer Stunde hatte ich mich noch aus meinem Bett gequält um ein paar einfache Small Talks zur Zimmervermietung abzuhalten, brauchte einen starken Kaffee um überhaupt halbwegs Aufnahme bereit zu sein und jetzt sitzt ein 19 jähriges Mädchen, geschminkt, mit Handtasche und dem wilden Traum einer Kriegsberichterstatterin vor mir. Ich bin mir ja bewusst, dass jeder seine eigene Wahrnehmung über die objektive Realität hat, also jeder die Welt subjektiv erlebt und empfindet und ich habe eigentlich viel zu früh damit aufgehört zu versuchen mich in die subjektive Realität von anderen Menschen hineinzuversetzen. Trotzdem würde ich mir ein Mindestmaß an Empathie zuschreiben, die es mir ermöglicht selbst wildeste subjektive Realitäten auf einer imaginären Skala (von interessant bis uninteressant) einzuordnen. Aber welche Vorstellung man von der Welt, eigenem Leben, Zielen, Träumen, Lebensqualität, Leiden, usw. man haben muss um mit 19 tatsächlich den Berufswunsch "Kriegsberichterstatterin" zu haben, weiß ich echt nicht. Sie wirkte äußerlich so normal, dass es mich nicht verwundert hätte wenn ihr Lebensziel "Popstar" gewesen wäre. Aber Kriegsberichterstatterin kriegte ich nicht mehr los. Deswegen ja auch dieser Beitrag. H:"Hast du denn schon Auslandserfahrung? Warst du schonmal in einer Krisenregion?" S:"Nein, noch nicht. Aber ich habe demnächst vor mit einer libanesischen Freundin Beirut für vier Wochen zu besuchen."
Leider vergeudete ich die restlichen zwanzig Minuten dafür zu überprüfen ob sie uns nicht veralbern wollte, statt Fragen zu stellen wie, was denn ihre Eltern davon halten, wie sie meint das es sich anfühlt, wenn direkt neben dem Kopf ein Geschoss entlang saust, wie sie reagieren würde, wenn sie ein halbzerfetztes Kind vier Meter vor ihr liegen würde und sie ihm nicht helfen könnte, weil es zu gefährlich wäre und ihre einzige Aufgabe darin bestehen kann, dass Leid zu dokumentieren? Wie würde sie diese unvereinbaren Realitäten in ihrem Kopf verarbeiten? Vor allem weil ich mir ja bewusst bin, dass meine Vorstellung von Kriegsberichterstatter mit den erfahrbaren Erlebnissen eine Art romantisch Verklärung ist, weil man sich dieses Grauen gar nicht vorstellen kann und im Grunde niemand wünschen kann dieses zu Erleben. H:"Hast du schon den neuen Film mit Angelina Jolie über den Auslandsberichterstatter (der war ja "nicht mal" Kriegsberichterstatter war) Daniel Pearl gesehen?" S:"Nein, wieso?" H:"Ach, nur so. Es hätte ja Auswirkungen auf deinen Berufswunsch haben können."
Die halbe Stunde die Sara da war, war das bisher interessanteste WG-Casting-Gespräch in meiner achtjährigen WG-Erfahrungslandschaft. Und das nicht, weil sie selbst abgefahren aussah, oder ähnliches, sondern weil sie in meinem Kopf eine derartige Gedankenlawine auslösen konnte. (Mag daran liegen, dass ich gerade die Geschichte der Menschheit studiere und notgedrungenerweiße permanent über Krieg, Zerstörung und Vertreibung lese. Aber es kann doch nicht eine solche Realitätsverschiebung eingesetzt haben, in der es verrückter ist, sich von solch einem Berufswunsch komplett irritieren zu lassen, als solch einen Berufswunsch zu äußern.) Damit hat sie logischerweise den bisherigen Spitzenplatz verdrängt: Ein 18-jähriger Krankenpfleger: 1,60m groß, 20cm Plateausohlen, auftoupierte Haare, ne Menge bunter Tattoos, schwul (nur vollständigkeitshalber, keine Ein- oder Ausschlußgrund), mit 5m langer Boa-Constrictor. Meine damalige sehr christliche Mitbewohnerin mit drei Ratten müsste damals eine ähnliche Gedankenlawine erlebt haben, wie ich jetzt.
Verabschiedet haben wie uns dann von Sara mit den Worten: "Es tut uns leid, aber du kannst hier leider nicht einziehen. Wir suchen jemand mit mehr WG-Erfahrung und entschuldige unsere Fixiertheit auf deinen Berufswunsch, aber wenn du zehn Jahre älter bist und ein WG-Casting machst und ein 19-jähriges Mädchen mit dem Berufswunsch "Kriegsberichterstatter" vor dir steht, wirst du sicherlich ähnlich reagieren." Daraufhin schaute sie nur noch ungläubig und verabschiedete sich artig.

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Krass! Vielleicht wäre Hansis Peter-Scholl-Latour-Biographie etwas für sie gewesen. Der hatte doch auch Arabistik studiert... ;-)

PS: Bio-Nutella? Nur Nutella ist Nutella. Is so!

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So hat sie, wenn schon nicht als Mitbewohnerin, das WG-Leben doch bereichert. Ihr Vorbild bei der Karriereplanung könnte übrigens Antonia Radost sein.

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ja möglich. Im Grunde unterschiedet sich der Berufswunsch ja nicht von dem eines Panzefahrers im Irak und den macht ja auch irgendwer freiwillig. Aber die Spezialrichtung "Kriegsberichterstatterin" als Journalistin erschien so absurd wie ein Studium der Physik um bessere Bomben zu bauen. Aber wer weiß wieviele solche Wünshe hegen und nie aussprechen. Bis sie dann inner Waffenschmiede ihre geheimste Lust ausleben können.

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Wer weiß, ob sie überhaupt bei der Arabistik dabeibleibt.

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Naja, krisensicher wäre es ja...

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Alternativ könnte sie auch beim Geheimdienst anheuern. Die suchen auch immer Leute.

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Wieso? Konnte die auch Telefonanlagen, Computer und Internet und so Zeug?

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Keine Ahnung, aber vielleicht später einmal Arabisch. Falls Os*ma 'mal nicht auf Deutsch mailt, wäre das doch praktisch, wenn man all die abgehörten und ausspionierten Sachen auch übersetzen kann. Und ab und an gibt's auch Videobotschaften.

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